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Hybride Mitgliederversammlung – Herthafamilie oder Lippenbekenntnis?

Am Sonntag stimmen die Mitglieder von Hertha BSC u.a. über einen Antrag ab, der künftig die Durchführung von hybriden Mitgliederversammlungen ermöglichen soll. Ich verfolge die Diskussion zu diesem Thema schon lange und bin seit vielen Jahren oft zutiefst erschrocken, wie undifferenziert und oberflächlich die Diskussion dazu bisweilen geführt wird. Was mich innerlich besonders bricht ist der Umstand, dass wir unter Herthafans inflatorisch den Begriff der Herthafamilie bemühen und die Solidarität unter Herthafans hochhalten, es hier aber zum Lippenbekenntnis verkommt, wenn Unterstützung unter Herthanerinnen und Herthanern m.E. dringend notwendig wäre. Erlaubt mir daher einige Anmerkungen zu dem Thema (losgelöst vom konkreten Wortlaut des aktuellen Antrags).

Die Mitgliederversammlung als Präsenzveranstaltung bleibt

Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich einige wichtige Eckpunkte vorab klarstellen. Die Mitgliederversammlung als Präsenzveranstaltung ist ein elementarer Kern der Vereinsarbeit und der Vereinskultur, die für mich in keiner Sekunde in Frage zu stellen ist. Ein reine digitale Mitgliederversammlung lehne ich daher ab. Die Mitwirkung und Teilnahme an der Mitgliederversammlung denen zu öffnen, die vor Ort nicht teilnehmen können, lässt sich als hybride Mitgliederversammlung aber damit vereinbaren. Auch eine reine Videoübertragung für Mitglieder – noch ohne Stimmrecht – wäre ein erster Schritt in die richtig Richtung, für den sich vermutlich eher eine Mehrheit finden lassen würde.

Sichere Lösungen

Und natürlich muss die technisch sichere Abwicklung einer hybriden Mitgliederversammlung zwingend gewährleistet sein. Ohne das geht es nicht. Dazu sollte man aber auch wissen, dass der 1.FSV Mainz 05 bereits auf eine hybride Mitgliederversammlung umgestellt hat. Die Mehrheit der DAX-Konzerne haben sogar bereits überwiegend auf digitale Aktionärsversammlungen umgestellt. Ohne heute bereits vorhandene sichere Technik, wäre das nach den strengen Vorgaben des Aktienrechts und des Vereinsrechts garnicht umsetzbar. Lösungen sind also offenbar vorhanden und werden auch schon genutzt. Im Kontext des Antrags hätte dieser Aspekt deutlicher hervorgehoben werden müssen.

Denen helfen, die wollen, aber nicht mobil sind

Wer das Thema hybride Mitgliederversammlung auf die Teilnahme von Exilherthanern (Mitglieder, die nicht in Berlin oder Brandenburg leben) reduziert, hat vermutlich das eigentliche Problem noch nicht richtig verinnerlicht. Erst mal geht es um alle Mitglieder von Hertha BSC, deren Mobilität aus verschiedenen Gründen eingeschränkt sind. Eltern, die am Tag der Mitgliedersammlung ungeplant das kranke Kind pflegen müssen oder selbst krank geworden sind. Mitglieder mit chronischen Krankheiten, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder nach einem Skiunfall mit Gipsbein zu Hause liegen. Mitglieder, die Familienangehörige pflegen oder die einfach zu weit weg wohnen. Ich nenne nur einige Beispiele. Vermutlich hat jeder von Euch schon mal Umstände erlebt, weswegen man ungewollt und ungeplant nicht erscheinen konnte. Das Thema betrifft alle Mitglieder.

„Wer nicht zur MV kommt, ist kein echter Fan“

Der Satz aus der vorhergehenden Überschrift bringt mich regelmäßig auf die Palme, weil er m.E. extrem oberflächlich ist. Zunächst mal darf jedes Mitglied auf die Art und Weise Fan sein, wie er/sie will und kann. Und natürlich stimmt auch, dass es zumutbar ist zur MV zu kommen, wenn man in oder bei Berlin wohnt. Das liegt sicherlich dann an den Leuten selbst, ob sie es überhaupt wollen. Aber das ist ja nicht mal der Punkt.

Es gibt m.E. gute Gründe die dafür sprechen, die Mitgliederversammlung denen zu öffnen, die – aus verschiedenen Gründen – nicht vor Ort sein können. Es gibt aber auch viele Gründe, die man als Mitglied nicht an die große Glocke hängt, weil es einem vielleicht unangenehm ist. Ihr habt alle mitbekommen, wie sich Mieten und Lebensmittelpreise in den letzten Jahren entwickelt haben. Als Exilherthaner muss man sich solche Anreisen jenseits der Spieltage zusätzlich leisten können. Da ist die Anfahrt ab Zürich, Freiburg, Flensburg oder dem Allgäu halt eine andere Hausnummer, als die U-Bahn ab Mehringdamm. Für einige entstehen auch Unterbringungskosten, die viele nicht mehr tragen können. Ich vermute, dass dies vielen Mitgliedern nicht bewusst ist. Jedes Mitglied ist m.E. alt und reif genug die eigene Lebenssituation bewerten zu können und selbstständig zu entscheiden was geht und was nicht. Das trifft auch die Grenzen dessen, was zeitlich und finanziell möglich ist. Das macht einen nicht zu einem „schlechten“ Fan, wenn die eigenen Lebensumstände einfach nicht mehr hergeben.

Demokratische Grundverständnis

Mir ist klar, dass die Überschrift viel Wucht hat und vereinzelt vielleicht als zu dick aufgetragen wahrgenommen wird. Aber es geht hier m.E. auch um ein gewisses Grundverständnis, wie wir mit dem eingeräumten Wahlrecht der Mitglieder umgehen. Zumindest muss die Frage erlaubt sein, ob wir hier richtig und zeitgemäß unterwegs sind. Das viele vor Ort lebende Mitglieder Ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen wollen, kann man weder dem Verein noch den anderen Mitgliedern vorwerfen. Das ist klar. Aber vielen Mitgliedern ein Wahlrecht auf einer MV einzuräumen, welches sie faktisch kaum oder nur unter ungleich schwereren Bedingungen wahrnehmen können, kann doch nicht der Sinn und Zweck sein. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich bei meinem Verein, bei Hertha BSC, überhaupt mitbestimmen kann. Ich halte das für enorm wichtig. In der tatsächlichen Ausübung bin ich aber faktisch eingeschränkt. Ich denke, dass die oft beschworene Herthafamilie hier andere Ansprüche haben müsste. Es stünde dem Verein hier gut zu Gesicht auch Vorreiter zu sein, neue Ansätze zu verfolgen und sich hier zu öffnen.

Etwa 7000 Mitglieder sind Exilherthaner

Ich hatte eben geschrieben, dass man das Thema nicht auf Exilherthaner reduzieren sollte, aber natürlich ist das auch ein Faktor. Die genaue Zahl lässt sich durch mich nicht exakt bestimmen, aber gut 7000 Mitglieder von Hertha BSC sind Exilherthaner. Das ist unzweifelhaft eine sehr große Anzahl von Mitgliedern. Für sie ist die Teilnahme bei einer Präsenzveranstaltung naturgemäß mit viel mehr Aufwand verbunden, als für andere Fangruppen. Wenn wir unter Fans solidarisch sein wollen und das für einen Wesenszug bei unserem Verein halten, dann sollten wir uns Lösungen öffnen, die zumindest versuchen bestehende Nachteile zu lindern.

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Vielleicht noch einige persönliche Worte dazu. Ich habe 25 Jahre lang in Berlin Tempelhof gelebt. Ich habe mir in dieser Zeit nie Gedanken über Fans/Mitglieder gemacht, die jenseits von Berlin leben. Und ich kann alle Mitglieder in Berlin verstehen, denen es vielleicht heute noch so geht, wie mir damals. Aber man kann seinen Horizont erweitern und sich mit dem Thema beschäftigen. Seit 30 Jahren lebe ich jetzt in Hessen, Herthaner bin ich geblieben. Seit fast 7 Jahren versuche ich beim Exilherthaner Podcast den Exilherthanern Aufmerksamkeit und eine wahrnehmbare Stimme zu geben. Die größte Verbesserung für die Exilherthaner war in dieser Zeit die Einführung des Internets bei der Ticketbestellung, was jetzt nicht unbedingt eine Erfindung von Hertha BSC war 😉 . Es wird Zeit, dass man auch da endlich mal ein Statement setzt und etwas tut. Die Teilnahme an der Mitgliederversammlung leichter zu ermöglichen, wäre ein Schritt.

Wie geht es weiter?

Das Thema hybride MV ist nicht neu. Schon vor knapp 5 Jahren sprach ich u.a. mit Fabian Drescher schon mal über darüber. Man zeigte sich offen für Anpassungen. Handfeste Änderungen dazu hat es seither nicht gegeben, allerdings beschäftigt sich die Satzungskommission schon seit längerer Zeit intensiv damit (mit anderen Themen natürlich auch). Ich rechne damit, dass der Antrag am Sonntag abgelehnt wird und hoffe inständig, dass spätestens durch die Kommission das Thema nochmal an Fahrt aufnimmt, was allerdings nicht unmittelbar erfolgen wird. Die Befürchtung, dass auch Verbesserungsvorschläge auf Basis der Satzungskommission abgelehnt werden bzw. keine Mehrheit finden, bleibt bei mir leider bestehen.

Ich will nicht unterschlagen, dass die hybride MV mindestens einen Aspekt beinhaltet, den ich kritisch sehe. Tatsächlich dürfte eine hybride MV teuerer sein, als eine reine Präsenzveranstaltung, die technische Anforderungen sind einfach höher. Auf der anderen Seite leistet sich Hertha BSC noch 2 Versammlungen pro Jahr, während andere Vereine dies auf eine Versammlung pro Jahr reduziert haben. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass auch Hertha BSC sich überlegt eine Reduzierung auf eine MV vorzunehmen, um Kosten zu sparen. Und das ganz losgelöst von einer hybriden MV. Perspektivisch könnte man die Mehrkosten vermutlich mit der möglichen Kosteneinsparung verrechnen und den Gesamteffekt so mildern.

Ich sehe, dass bei vielen Mitgliedern noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist und ich fürchte, dass die Zeit bis Sonntag dafür zu knapp sein dürfte. Ich hoffe, dass man sich schrittweise dazu entscheiden wird, sich bei dem Thema zu öffnen und den Mitgliedern zu helfen, die sich dringend Verbesserungen wünschen. Eine Fangemeinschaft, die so oft von der „Herthafamilie“ spricht, sollte sich daran messen lassen, dass sie es auch lebt. Denn sonst, ist es wirklich nur ein Lippenbekenntnis.

Seht mir ansonsten bitte nach, dass ich mich zu juristischen Details aus dem Vereinrecht nicht äußern kann, ich bin da halt nur Herthafan und kein Volljurist. Es wird da sicherlich weitere Rahmenbedingungen geben, die noch zu berücksichtigen sind, aber det macht dann Dr. Lentfer besser , als icke 😉 . Ich hoffe, dass der Text Euch einige Einblicke und Aspekte nennen konnte, die Euch vorher noch nicht so bewusst waren.

So oder so : Ein lautes Ha! Ho! He! Hertha BSC! in die Welt!

Euer Brehmchen


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